Erst vor hundert Jahren begann sich das universale Wahlrecht allmählich in Europa durchzusetzen. Zuvor waren nicht nur Frauen komplett ausgeschlossen, politisch stimmenlos blieb auch Großteil der Männer, weil ihr Einkommen oder Eigentum zu gering war. In Großbritannien, stolzer Geburtsstätte des Parlamentarismus, durften bis 1918 gerade einmal 52 Prozent der volljährigen Männer wählen.
Auch nach dem zweiten Weltkrieg war die Demokratisierungsbilanz Europas durchwachsen. Die osteuropäischen Länder lagen hinter dem Eisernen Vorhang, ihre republikanischen Anfänge im Realsozialismus erdrückt. Im Westen waren Portugal, Spanien und Griechenland stramme faschistische Diktaturen. In Frankreich, Land der großen Revolution, putschten noch 1958 ultrarechte Militärs erfolgreich und etablierten ein präsidiales Regierungssystem mit einem hochdekorierten General an der Spitze, dem heute als Helden verklärten Charles de Gaulle.
Das alles ist Vergangenheit und darauf darf man stolz sein. Doch der Blick zurück erinnert uns daran, dass Demokratie auch in Europa nicht selbstverständlich war, sondern in einem schmerzvollen und mühseligen Geburts-Kampf errungen werden musste.
Natürlich ist das Herz auf Seiten jener junger Ägypter, die ihre Gesellschaft mit einem Schlag liberalisieren wollen. Und man tut gut daran, eine Verfassung zu kritisieren, die sowohl der Religion wie dem Militär eine wichtige Rolle zuweist. Doch die undifferenzierte Formel von der „von Islamisten geschriebenen Verfassung“ verrät nicht mehr, als dass der jeweilige Autor die Verfassung nicht selbst gelesen hat. Die Verfassung erkennt die Menschenrechte ausdrücklich an (Art. 31-57), ihre Gewaltenteilung gleicht jener im deutschen Grundgesetz und das präsidiale System ist dem französischen und us-amerikanischen vergleichbar. Einen Gottesstaat im iranischen Sinne sucht man hier vergebens. Stattdessen zeigt sich den Lesern das Bemühen, das Gift der Diktatur auszutreiben. Zahlreiche Artikel zielen darauf ab, Nepotismus, Korruption und Machtmissbrauch zu bekämpfen, soziale Gerechtigkeit sowie Entwicklung zu fördern. Wie jede neu geschriebene Verfassung ist auch die ägyptische eine Absichtserklärung und ihr Interpretationsspielraum ist beträchtlich. Wirklich spannend ist nicht, ob ‚Islamisten‘ diese Verfassung geschrieben haben, sondern, wer auf ihrer Grundlage den politischen Prozess gestalten wird, wenn mit der Wahl des Parlaments in zwei Monaten die erste Legislaturperiode einsetzen wird. Die Kur vom Gift der Diktatur hat gerade erst begonnen.
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