Bianca, die Tochter von Maria D., würde gern in Berlin bleiben. Seit Beginn des vergangenen Schuljahres besucht die Neunjährige die Grundschule in der Lützowstraße. „Sie sprach kein Wort Deutsch, als sie eingeschult wurde“, sagt ihre Lehrerin Annegret Byfield, „sie wusste nicht, wie man einen Stift oder eine Schere hält – aber sie saß mit großen Augen da und sog alles wie ein Schwamm in sich auf. Inzwischen kann sich Bianca gut auf Deutsch verständigen und macht beim Lernen Fortschritte.“
Als Annegret Byfield hörte, dass Roma-Familien aus der Genthiner Straße jetzt im Görlitzer Park leben, wusste sie gleich, dass Bianca dabei war. „Ich bin nicht hingegangen, das hätte mich emotional belastet“, sagt sie. Zu ihrem Erstaunen sei Bianca aber nach den Ferien jeden Morgen pünktlich in der Schule erschienen. Gewaschen, sauber gekleidet und sogar mit Frühstück. „Manchmal ist sie freilich während des Unterrichts für zehn Minuten eingenickt“, erzählt die Lehrerin, „ihr Kopf sank auf den Schreibtisch – und ich habe sie schlafen lassen.“
Annegret Byfield geht behutsam mit ihrem Wissen um die familiäre Situation um. Als sie bemerkte, dass die Stifte immer wieder aus Biancas Federtasche verschwanden, weil kleinere Kinder aus der Familie auch malen wollten, kaufte sie eine zweite Mappe, die in der Schule bleibt. Seither holt sich das Mädchen jeden Morgen stillschweigend die Federtasche. Auch davon, dass sie im Park schläft, erzählt sie nichts in der Schule. Wie vielen Roma-Kindern wäre ihr das vor den Klassenkameraden peinlich. Und wie ihr Bruder Decebal schämt sie sich auch, wenn Lehrer oder Mitschüler sie zufällig beim Betteln mit den Eltern oder Geschwistern entdecken.
„Für Bianca ist unsere Ganztagsschule hier ein Paradies, zumindest ein geschützter Raum“, sagt Annegret Byfield. Die engagierte Lehrerin hat Bedenken, dass das Mädchen nicht mehr kommt, wenn es in Mariendorf wohnt. „Bianca braucht dringend Stabilität, ich hoffe, die Mutter bringt sie weiterhin zu uns.“
Byfields Hoffnung heißt Cristina Nastase, die manche „Engel der Roma“ nennen. Doch Sozialarbeiter erleben häufig Hausbesitzer, die genau wissen, dass zu viele Menschen in ihren Wohnungen leben und erst wachwerden, wenn sie plötzlich extrem hohe Wasserkosten haben. So lange sich „nur“ die Nachbarn beschweren, greifen sie nicht durch. Es passiere auch, dass Hartz-IV-Empfänger, deren Wohnung das Jobcenter finanziert, zum Freund ziehen und ihre zwei Zimmer an zehn Roma vermieten, die zwischen fünf und zehn Euro pro Nacht zahlen. Dies funktioniert genauso gut oder schlecht mit Bauarbeitern aus Osteuropa.
„Man spricht von einer Roma-Problematik, aber vielleicht spiegeln diese Menschen nur am deutlichsten einige Probleme in unserer Gesellschaft wider“, sagt Cristina Nastase. Es ist ein Geschäft mit der Armut, mit denen, die sich schlecht wehren können.
Familie D. hat an diesem Mittwoch viele Dankesreden auf ihren „Retter“ Lutz Thinius gehalten. Dabei ist ihre neue Unterkunft in Alt-Mariendorf ziemlich schmutzig, das Bad winzig, genauso die Kochnische. „Alles besser als im Park“, sagt Maria D.
Ein Rentner, der im gleichen Aufgang wohnt, erzählt, dass hier schon einmal eine Roma-Familie aus dem Kosovo gewohnt habe. „Aber nur für ein Jahr. Es hat zu viel Ärger gegeben.“Dabei ist die 33-jährige Sozialbetreuerin vom Verein Südost Europa Kultur alles andere als sanft, wenn es um die Interessen der Kinder geht. Schon oft hat sie Eltern klargemacht, dass sie gerade in dieser Hinsicht auch Pflichten haben. Dafür schaltet sie ihr Handy nie aus. Oft kommen die Hilferufe auch nachts: Ein Baby hat Fieber, oder ein Junge wurde zum Kindernotdienst gebracht. „Den Menschen wird in Rumänien oft das Blaue vom Himmel versprochen“, sagt sie, „dafür zahlen sie Geld, ziehen nach Deutschland und finden hier weder Arbeit noch Wohnung.“ Dennoch würden sich viele integrieren, sagt Nastase. Problematisch werde es aber, wenn viele auf engstem Raum lebten.
Die neue Wohnung, die Humanitas-Chef Lutz Thinius für Maria D. und ihre Familie besorgt hat, ist 90 Quadratmeter groß und kostet 850 Euro warm. Thinius hat keine Zweifel, dass er das Geld erhält. Ihm sei es egal, ob es vom Betteln oder Scheibenwischen kommt, sagt er. Nur nicht wieder vom Weiter- oder Untervermieten. Maria D. hat versprochen, dies in der neuen Wohnung zu unterlassen. Aber wie soll sie dann 850 Euro auftreiben? Und wie soll sie sich entziehen, wenn ihre Landsleute sagen: „Wir sind deine Verwandten, du musst uns bei dir schlafen lassen.“
Manche werfen Thinius vor, er nutze die Not der Roma aus, indem er schäbige Wohnungen an- und gewinnbringend an sie weitervermiete. Thinius bestreitet das: „Mein Verein finanziert sich zwar von der Differenz zwischen An- und Vermietung“, sagt er, „aber das Ziel ist, den Menschen zu helfen.“
Erscheinungsort: Dritte Seite im Tagesspiegel
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